Ankerplätze

Ankerplätze

Ich stehe vor dem Tod.

Seine Augen sind müde,
seine Haut ist ledrig,
seine Knochen blitzen hier und da hervor.

Ich habe keine Angst.
Mein Atem geht ruhig, bedächtig.

In Deinem Angesicht stehen.

Bereits jetzt weiß ich,
dass ich nicht mehr die Gleiche sein werde,
jetzt, wo ich Dich gesehen habe.

Dein müder Blick
wendet sich mir langsam zu.

„Was willst Du?“
fragst Du mich.

„Sehen, was mich erwartet“
antworte ich.

„Hier bin ich. Jetzt hast Du mich gesehen.
Und? Hast Du Angst vor mir?“

„Vielleicht ein bisschen“ sage ich leise.

„Gib mir Deine Hand.“

Ich reiche ihm meine Hand.

Kälte erfasst mich.

Ich kann ihn riechen.

Er riecht wie Moos,
wie Wasser aus einem unendlich tiefen Brunnen, er riecht wie der Wind.

„Wie der Wind?“ fragt er.
Er schmunzelt.

Erschreckt ziehe ich meine Hand zurück.

„Du kannst meine Gedanken hören?“

„Selbstverständlich“ antwortet er.
„Ich muss die Gedanken der Menschen hören,
damit ich weiß, wann es an der Zeit ist,
sie abzuholen.“

„Achso“ sage ich.

„Und? Holst Du mich jetzt ab?“

„Nein. Ich möchte mich Dir nur zeigen.
Denn Du bist neugierig.
Und ich möchte, dass Du weißt,
dass Du keine Angst vor mir zu haben brauchst.
Denn ein Leben in Angst,
das ist kein richtiges Leben,
das ist der Tod, der sich als Leben maskiert hat. Möchtest Du Dein Leben lang maskiert bleiben?“

„Nein.“

„Dann leb‘ wohl. Und begib‘ Dich auf die Reise.“

„Wohin soll ich reisen?“

„Reise zu Deiner Quelle. Deine Gedanken und Gefühle sollen Dein Schiff sein. Und sie werden Dich tragen. Über die großen Wellen des Lebens. Wie ein Kompass werden sie Dich leiten. Und immer wieder wirst Du ankern. Schau Dir diese Ankerplätze genau an.
Dort wirst Du Deine Wurzeln erleben.
Denn alle Menschen haben Wurzeln,
doch manchmal sehen sie sie nicht.
Doch mit Deinen Augen kannst Du sie nicht sehen. Nur mit dem tiefsten Punkt Deiner Seele kannst Du sie erfahren.
Wenn dieser Punkt anfängt zu leuchten, dann weißt Du, dass Du eine Deiner Wurzeln gefunden hast.
Folge diesem Licht.
Und wenn alles um Dich herum dunkel ist,
dieses Licht wird scheinen.
DU wirst scheinen.
Manchmal wirst Du ganz hell leuchten
und manchmal wird Dich die Dunkelheit um Dich fast verschlingen.
Das werden die Momente sein,
in denen Du Dich entscheiden kannst,
ob Du eins werden möchtest mit der Nacht.
Mit den Sternen. Mit allem.
Oder ob Du auf den Morgen warten möchtest.
Denn eines ist sicher und das ist auch sicher,
wenn sich um Dich herum nichts mehr sicher anfühlt:

Die Sonne wird aufgehen.
Vertraue darauf.
Dann kann Dir nichts geschehen.“

Der Tod blickt zu Boden,
auf das Stück Raum, das uns trennt.

„Ich verneige mich vor Dir.“

„Ich verneige mich vor DIR.“

Ein leises Sirren ist zu hören.
Langsam zieht der Tod sich zusammen,
er wird kleiner und kleiner.
Die dunklen Farben seines Gewandes
weichen hellen, satten Farben,
mir ist als höre ich das Flügelschlagen
eines mächtigen Vogels…

Plopp.

Vor meinen Füßen liegt ein bunter Flummi.

„Mama! Schau, was ich gefunden habe.
Er glitzert!“

Ein sanftes Lächeln huscht über mein Gesicht.

„Ja, mein Kind. Wunderschön.“