Viele Gesichter

Eigentlich war er ein paar Nummern zu groß für sie. Im wörtlichen Sinn. Sie fühlte sich klein, wenn sie neben ihm stand. Sein Körper überragte ihren um ganz genau 30 Zentimeter.

Eigentlich war sie ein paar Nummern zu groß für ihn. Im sprichwörtlichen Sinn. Abitur, Studium mit Auszeichnung. Ihre formale Bildung überragte seine um drei Zeugnisse.

Aber was war „zu groß“? Bedeutete „Zu groß“ eine Nicht-Passung, einen unüberwindbaren Unterschied? Nein, diesen gab es nie. Was es aber gab, das waren die Erkenntnisse: dass Liebe kein wahnhaftes Verschmelzen ist; dass Annäherung und Anpassung Grenzen hat; dass eine reife Liebe die Unterschiede achtet; dass dieses Liebe-Experiment nur gelingen konnte, wenn beide sie selbst bleiben durften. Auch wenn sie nicht immer ganz genau wussten, was das war.

„Ich war so dumm“ sagte sie zu ihm. „Ich habe nicht gewusst, was im Leben wirklich wichtig ist.“

DAS war es, warum sie ihn verehrte. Er fand das albern, aber er glaube es ihr. Sie tat es, sie verehrte ihn. Das tat sie tatsächlich. Weil sie durch ihn gelernt hatte.

Zum Beispiel, dass Zeit wichtiger war als Geld. Oder was Gelassenheit, innere Ruhe bedeutete. Vorher hatte sie aber von ihm gelernt, was Wut bedeutete. Dafür hatte sie sich nie bei ihm bedankt, obwohl das wohl der wichtigste Weg war, auf dem sie ihm gefolgt war. Der Weg durch die Wut.

Teilweise waren die Lektionen über die Maßen schmerzhaft gewesen. Am schlimmsten war das Alleinsein gewesen. Das hatte sie nicht gekonnt. Jetzt, da sie es gelernt hatte, wunderte sie sich über die anderen. Über Menschen, die sich ängstlich aneinander klammerten, obwohl offensichtlich war, wie ungesund sie füreinander waren. Oder Menschen mit häufig wechselnden Sexualpartner:innen, die nur Sex hatten, um danach kuscheln zu können. Wie seltsam Menschen sich manchmal verhielten…

Nach der langen Zeit allein trafen sie sich irgendwann wieder.

„Wie hast du die Zeit so verlebt?“ fragte er.

„Ich habe viele Gesichter gesehen“ sagte sie. „Ich habe mir sie angesehen und immer in ihnen nach etwas gesucht, nach Ähnlichkeiten. Mit dir. Jedes Detail habe ich überprüft. Wenn da Ähnlichkeiten waren, dann war es gut. Du warst weg. Aber in ihnen warst du da. Und du warst in so vielen Menschen da. Dadurch wurde die Welt für mich wieder zu einem vertrauten Ort.“

Er lächelte in sich hinein. Da war sie wieder, diese Zufriedenheit. So fühlte sie sich an, die Liebe. Zufrieden und vertraut. Ein schönes Gefühl.

„Viele Gesichter…“ murmelte er. „Die Hoffnung, die hat viele Gesichter.“