Wahnsinn

Er hatte sich eingeordnet. Sich selbst behutsam glattgebügelt, ordentlich zusammen gefaltet und die Schublade der „Normalen“ nach der Einordnung fest verschlossen.

Doch sie, sie öffnete die Schublade wieder und nahm ihn heraus. Seltsam steif lag er jetzt in ihren Händen. Vorsichtig strich sie über den glatten, braunen Stoff. Keine Falte, kein Fleck.

Sie legte ihn auf die sonnige Fensterbank.
Nach einer Weile griff sie wieder nach ihm. Er war jetzt warm. Sie versuchte ihn überzustreifen, aber es gelang ihr nicht. Er passte nicht mehr.

Sie trat an den Schrank heran. Laut las sie die Beschriftung auf der Schublade vor: „Normal“.

Sie dachte an die Worte von Foucault: „Wenn die Vernünftigen nicht mehr mit den Wahnsinnigen kommunizieren, sind sie mit Sicherheit selbst wahnsinnig.“

Sie dachte an den Assistenzarzt, der sie begutachtet hatte. An seinen vertrauenswürdigen, federnden Gang, der sie an einen alten Freund erinnert hatte. Dachte an seine Unterschrift. „K. Schneider“ hatte er auf das Blatt Papier geschrieben, das ihr Leben so brutal verändert hatte. Sie dachte daran, was gewesen wäre, wenn ein anderer Mensch an seiner Stelle gewesen wäre. Wenn er genauer hingesehen hätte. Wenn er genauer zugehört hätte. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte. Wenn wenn wenn…

Zum Verzeihen war noch keine Zeit. Die rasende Geschwindigkeit und die Wucht, mit der sich ihr Leben verändert hatte, hatte ihr bisher keine Zeit gelassen.

Sie war enttäuscht. Enttäuscht von der Gesellschaft. Es wäre ihr lieber gewesen, sie wäre eines Morgens mit einer schwarzen Haut aufgewacht. Was der selbstdefinierte „Normale“ dann wohl getan hätte? Wäre sein Hass derselbe? Und die Angst?

„Wer die Unvernunft des Menschen negiert, macht letztlich nicht von der eigenen Vernunft Gebrauch“. Solche Worte, wie die von Foucault, waren es, die sie jetzt trösteten.

Sie nahm ihn in beide Hände und sprach zu ihm:

„Du bist meinem Wahnsinn begegnet und ich bin deinem Wahnsinn begegnet. Du bist meiner Vernunft begegnet und ich bin deiner Vernunft begegnet. Doch Wahnsinn und Vernunft stehen sich nicht wie Feinde gegenüber. Sie gehören untrennbar und verwoben zu dem, was uns Menschen ausmacht. Menschen, die andere Menschen entwerten, für was auch immer, entwerten sich selbst in ihrer eigenen Menschlichkeit.

Wie sieht es in dir aus? Kannst du deinen Blick nach innen richten und deinen Selbsthass in Liebe verwandeln? Kannst DU DICH lieben, nachdem der Wahnsinn DICH für einen Augenblick heimgesucht hat? Kannst du zu dir selbst sagen: ‚Ja, auch ich trage den Wahnsinn in mir?‘
Wenn du das bei dir selbst kannst, kannst du es dann auch bei mir?“

Sie trat an den Schrank heran, öffnete die Schublade „Wahnsinn“ und legte ihn hinein.

Da lagen sie. Alle die, die irgendwem nicht mehr passten.

„Du passt mir nicht“ verabschiedete sie ihn höflich. „Du bist mir zu wahnsinnig.“

Und dann blickte sie nach innen und beschloss, zu lernen, sich selbst zu lieben. Immer. In den vernünftigen Momenten und in denen, in denen andere sie nicht verstanden. Weil sie wusste: der Wahnsinn hat für sein Erscheinen immer gute Gründe.